Schorsch kam gerade aus der Schule. Wie immer hatte er großen Spaß gehabt und viel gelernt. Nun machte er sich direkt auf den Weg zu seiner chaotischen Tante Tilly. Nach Hause ging er nicht mehr, er wußte ohnehin dass es wieder das gleiche zu Mittag geben würde wie schon seit circa drei Jahren. Nämlich Wirsing. Vor drei Jahren eingefrorenen heute aufgetauten Wirsing. Da seine Mutter schon längst nicht mehr kochen wollte und sich täglich Essen liefern ließ, aß Schorsch meist bei der uralten Nachbarin zu Mittag deren Leibspeise, nun ja, Wirsing war.
Schorschs Tante wohnte am anderen Ende der Stadt in einem kleinen, windschiefen, baufälligen Häuschen. Tilly war die Schwester seiner Mutter. Seit langem schon hatten die Schwestern sich nicht mehr gesehen. Damals gab es Streit um die Erbschaft der Eltern, der nicht mehr geschlichtet werden konnte.
Tante Tilly war ganz anders als ihre Schwester. Zwar war auch sie ziemlich groß, vor allem für eine Frau, allerdings auch wahnsinnig schlank. Sie hatte hüftlanges schwarzes Haar und trug gerne knöchellange gebatikte Kleider. Weil sie sehr kurzsichtig war brauchte sie außerdem eine Brille mit sehr dicken Gläsern was dazu führte dass ihre Augen doppelt so groß aussahen als bei anderen Menschen. Außerdem war sie als Kind einmal mit dem Fahrrad gegen einen Baum gefahren und seitdem standen ihre oberen Schneidezähne sehr nach vorne was ihr ein leicht pferdeähnliches Aussehen verlieh.
Nach dem Weg quer durch die Stadt kam Schorsch am Haus seiner Tante an. Die Tür stand sperrangelweit auf, was schon mal sein konnte, denn Tilly hieß nicht umsonst die chaotische. Schorsch betrat das windschiefe, baufällige Haus und rief: "Tilly? Tante Tilly? Bist du zu Hause?". Er bekam keine Antwort aber aus dem Wohnzimmer drang ziemlich laute Radiomusik. Langsam bewegte er sich auf die Wohnzimmertür zu und versuchte dabei nichts herunterzuschmeißen und nirgends anzustoßen, was gar nicht so einfach war. Überall, aber auch wirklich überall stand etwas in diesem Haus. Von den Wänden war hier fast nichts mehr zu sehen. Es reihte sich Möbelstück an Möbelstück und darauf reihte sich Gegenstand an Gegenstand. Falls es irgendwo mal eine Lücke gab war diese mit einem Stapel aus alten Zeitungen aufgefüllt worden oder mit einem Objekt aus Tillys Katzensammlung jeglicher Art (wirklich aus jeglicher Art: die Katzen waren aus Stoff, Porzellan, Papier, gemalt, getont, genäht...)
Schorsch öffnete die Wohnzimmertür und betrat den Raum. Er versuchte Orientierung zu erlangen. Hier drin sah es auch nicht anders aus als im Rest des Hauses. Um es einmal milde zu beschreiben: Das Haus war vollgestopft bis oben hin. Schorsch wollte sich bemerkbar machen: "Tilly! Hallo! Ich bin es, dein Neffe Schorsch..." aber die Radiomusik war zu laut. Er versuchte das Radio ausfindig zu machen doch es gelang ihm nicht. Stattdessen nahm er aus der hinteren Zimmerecke Bewegungen wahr. Fast sah es so aus als wäre hier ein Maulwurf zugange. Es wühlte in all den Sachen umher, Kleidung flog durch die Gegend, Bücher flatterten an Schorschs Ohren vorbei, alles untermalt von moderner Popmusik. Dann plötzlich tauchte Tilly aus dem Haufen Sachen hervor und richtete sich in ihrer vollen Größe unmittelbar vor ihm auf.
Triumphierend hielt sie einen Stecker in der Hand. "Na, endlich! Seit Tagen suche ich schon dieses verflixte Radio. Ich habe es einfach nicht mehr gefunden. Ich habe ja mein eigenes Wort nicht mehr verstanden.". Und tatsächlich es war ruhig geworden. "Tilly! Ich wollte nicht unhöflich sein aber die Tür stand offen darum bin ich einfach rein gegangen.", "Wer bist denn du? Du bist ja ganz schön klein.", "Ich bin's Schorsch. Schorsch Weihnacht!", "Schorsch wer?". Man muss dazu sagen dass Schorschs Mutter den Namen ihres Mannes angenommen hatte. Gebürtig hieß sie Sackhals-Deckelmann, na und diesen Namen wollte sie natürlich liebend gerne gegen Weihnacht eintauschen. "Schorsch Weihnacht, dein Neffe. Der Sohn deiner Schwester.", "Meine Schwester diese Giftkröte. Seit Jahren habe ich sie nicht mehr gesehen und das ist auch besser so. Um ehrlich zu sein dieses monströse dicke Unglücksweib möchte ich überhaupt nicht mehr sehen. Was willst du denn hier?", "Besuchen wollte ich dich. Außerdem wollte ich dir von meiner Idee erzählen. Ich möchte dieses Jahr Weihnachten mit unserer ganzen Familie feiern. Und da ich weiß, dass du die allerbesten Plätzchen machst wollte ich dich bitten für die Feier zu backen.", "Na ich weiß nicht... mit meiner Schwester? Ich muss erst mal meinen Schlüssel suchen." sagte sie und war schon wieder in einer Düne von Zeug abgetaucht.
Schorsch wollte so schnell aber nicht aufgeben und setzte sich erst mal aufs Sofa, bzw. er versuchte es, zum hinsetzen gab es nicht sonderlich viel Platz. So kauerte er auf einer Pobacke zwischen Büchern und Regenschirmen auf dem zerschlissenen dunkelroten Samtsofa. Nach etwa einer halben Stunde tauchte Tilly wieder auf und sprach: "Also ich hab's mir überlegt... Ich mache mit. Man soll allen Menschen eine zweite Chance geben. Tja das gilt ja dann auch für meine Schwester. Wer weiß vielleicht hat sie sich ja doch ein wenig verändert. Äh, hast du zufällig meine Schlüssel gesehen?", "Juchuh! Danke Tante Tilly, ich freue mich sehr! Du bist einfach toll!". Er umarmte seine Tante und raunte noch in ihren Schoß: "Deinen Schlüssel, nein den habe ich leider nicht gesehen. Aber versuch es doch mal in deiner Handtasche.", "In welcher von den 327 den?"
Dann machte sich Schorsch auf den Heimweg. Er war sehr glücklich. Seine Idee von einer großen Weihnachtsfeier gab ihm ein ganz warmes wohliges Gefühl der Vorfreude. Allerdings war ihm auch klar, dass noch ein Haufen Arbeit vor ihm stand. Seine Familie war wirklich sehr groß und sehr zerstritten. Andererseits hatte er auch noch drei Wochen vor sich. Er war guter Dinge und war schon sehr gespannt was in den nächsten Tagen sonst noch alles passieren sollte.
Für heute ging er erstmal ins Bett.
Dackhals-Seckelmann:)
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